„Agrarökologie erhält Lebensgrundlagen und stärkt die bäuerliche Landwirtschaft“
Interview mit Marita Wiggerthale, Oxfam
Im Jahr 2019 stieg die Zahl der hungernden Menschen im dritten Jahr in Folge. Schätzungsweise hungert jeder neunte Mensch. Insgesamt haben rund zwei Milliarden Menschen nicht genug zu essen. Gleichzeitig sind mehr als zwei Milliarden Menschen übergewichtig. Marita Wiggerthale sagt: „Es gibt genug Nahrung für alle. Ein Weiter-wie-bisher ist inakzeptabel.“ (Interview in English)
Die langjährige Referentin für Welternährung und globale Agrarfragen bei Oxfam Deutschland kennt eine zukunftsfähige Lösung für das Dauerproblem und wird nicht müde darauf hinzuweisen. Sie engagiert sich schon lange für die Transformation der Ernährungssysteme durch das Konzept Agrarökologie. Das Konzept stellt ein Gegenmodell zur industriellen Landwirtschaft dar und bietet viele Vorteile: Mehr Vielfalt über und unter der Erde, eine bessere Bodenfruchtbarkeit und eine höhere Resilienz in Zeiten von Dürren, Starkregen und Stürmen. Agrarökologie erhält die natürlichen Lebensgrundlagen, stärkt die bäuerliche Landwirtschaft und fördert eine ortsnahe Versorgung mit frischen, gesunden und vielfältigen Lebensmitteln, so die Überzeugung der Expertin.
Eine ganze Reihe von Studien beweist die Nachhaltigkeit des Konzepts Agrarökologie. Immer mehr Bäuer*innen machen sich auf den Weg und verändern ihre Anbausysteme. Auch die Zahl der Bio-Bauern und die ökologisch bewirtschaftete Fläche wachsen weltweit stetig. (Agrar-)ökologisch hergestellte Lebensmittel sind immer besser verfügbar. Dennoch fehlt Millionen Menschen immer noch der Zugang zu den Lebensgrundlagen, zu sauberem Wasser und gesunder Nahrung. Und: Laut UN sterben rund 200.000 Menschen in Entwicklungsländern jährlich an akuten Pestizidvergiftungen.
Die spürbaren Effekte des Klimawandels und die Verabschiedung der SDGs haben mehr Bewegung in die Diskussion um Agrarökologie gebracht. Das Konzept wird wegen seiner vielen Vorteile für die Umwelt und die Ernährungssicherheit von einigen Regierungen und der Welternährungsorganisation gefördert. Sind wir einen wichtigen Schritt weiter in die richtige Richtung, Frau Wiggerthale?
Ja, das sind wir. Immer mehr Menschen aus Wissenschaft und Politik verstehen, dass ein „Weiter-so” keine Option ist. Der Weltagrarbericht hatte das schon 2009 postuliert. Diese Botschaft ist inzwischen stärker angekommen. Die negativen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft sind offensichtlich. Die gute Nachricht ist, dass Agrarökologie und Öko-Landbau Antworten auf zahlreiche Probleme bieten, beispielsweise auf die Klimakrise, den dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt, die fortschreitende Bodendegeneration oder das Höfesterben, um nur einige zu nennen. Der Ansatz Agrarökologie – und das macht seine Stärke aus – ist sowohl wissenschaftlich fundiert, als auch über Jahrzehnte auf den Feldern praktiziert. Obwohl das Konzept bislang wenig von politischer Seite gefördert wurde, hat es durch soziale Bewegungen und Bauernzusammenschlüsse immer stärkere Verbreitung gefunden. Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer auf politischer Seite. Zum einen hat die Welternährungsorganisation FAO eine eigene Initiative zum Scaling-Up (Anmerkung: Vergrößern/Stärken) von Agrarökologie auf den Weg gebracht und zudem deutlich gemacht, dass der ganzheitliche Ansatz der Agrarökologie zum Erreichen vieler SDG-Ziele beitragen kann (Anmerkung: der UN-Nachhaltigkeitsziele). Zum anderen gibt es erstmalig einen Bericht des Expertengremiums des UN-Welternährungsausschusses zu Agrarökologie und anderen innovativen Systemen. Und nicht zuletzt hat sich der Deutsche Bundestag für die Förderung von Agrarökologie ausgesprochen.
Welche Hauptkriterien machen das Konzept Agrarökologie aus und worin sehen Sie die größten Vorteile?
Agrarökologie ist ein holistischer, ganzheitlicher Ansatz und keine Toolbox (Anmerkung der Redaktion: Werkzeugkasten). Zu den grundlegenden Elementen gehört, dass Agrarökologie die Vielfalt über und unter der Erde fördert, also sehr bewusst biologische Vielfalt in das System integriert. Dadurch werden unter anderem die Bodenfruchtbarkeit und das Wasserhaltevermögen des Bodens erhöht, gleichzeitig der Schädlingsdruck in einem balancierten System reguliert. Es schafft aber auch Existenzgrundlagen für (klein-)bäuerliche Haushalte, erhöht ihre Netto-Einkommen und stärkt ihre Autonomie. Dazu gehört auch das Recht auf und die Kontrolle über den Zugang zu Land, Saatgut und Wasser. Die Abhängigkeit von internationalen Konzernen wird reduziert.
Die ökologischen und die menschenrechtlichen Prinzipien, beispielsweise der Ansatz der Ernährungssouveränität, werden ja lokal bzw. regional sehr unterschiedlich umgesetzt. Darin liegt die Stärke der Agrarökologie. Bäuer*innen können höhere Preise erzielen, weil die lokalen Märkte bessere Stadt-Land- sowie Bäuer*innen-Verbraucher*innen-Verbindungen fördern, gleichzeitig die Produktionskosten senken. Dadurch sind die Netto-Einkommen höher und das wiederum wirkt sich positiv auf die Ernährungssicherheit marginalisierter Bäuer*innen vor allem in den Ländern des globalen Südens aus.
Wichtig ist auch, dass es sich um einen Bottom-up-Ansatz (Anmerkung: von unten nach oben) handelt und dass Männer und Frauen gleichgestellt sind. Es geht insbesondere darum, dass die Akteure vor Ort lokale bzw. regionale Lösungen erarbeiten und dabei auf ihr eigenes Wissen aufbauen. Bei der politischen Dimension der Agrarökologie geht es darum, dass zivilgesellschaftliche Akteure wie Bauernverbände oder Verbraucherorganisationen aktiv einbezogen werden, damit sie die Möglichkeit haben, frühzeitig Programme und relevante Politiken in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Aktuell steht die Klimakrise im Fokus. Agrarökologie wird von der Politik als vorteilhaftes Konzept anerkannt, das beispielsweise die verheerenden Folgen von Extremwetterlagen mindern und stabilere Erträge liefern kann.
Eine Langzeitstudie (30 Jahre) des US-amerikanischen Rodale Instituts hat ergeben, dass ökologische und diversifizierte Anbausysteme besser mit den Folgen des Klimawandels zurechtkommen als die industrielle Landwirtschaft. Die Maiserträge waren in Dürrejahren um 31 Prozent höher.
Gibt es Unterschiede der Agrarökologie zu den klassischen Ansätzen des Bio-Anbaus?
Die Ansätze haben viele Gemeinsamkeiten, aber im Unterschied zur klassischen Bio-Bewegung setzt Agrarökologie nicht in erster Linie auf die Zertifizierung von Produkten, die dann z. B. exportiert werden, sondern auf Stärkung lokaler bzw. regionaler Ernährungssysteme gemäß den oben genannten Prinzipien. Diese bauen zwar stark auf den ökologischen Landbau auf, gehen jedoch in ihrer sozialen und politischen Dimension noch deutlich darüber hinaus. Es geht weniger um den Aufbau globaler Wertschöpfungsketten wie vielfach im Öko-Sektor, sondern um die Förderung lokaler bzw. regionaler Ernährungssicherheit. Ziel ist es, die Menschen vor Ort mit gesunden, frischen Lebensmitteln zu versorgen und gleichzeitig zu bewerkstelligen, dass die Erzeuger*innen faire Preise für ihre Produkte erhalten. Der Bottom-up-Ansatz ist hierbei ganz zentral: Die bäuerlichen Gemeinschaften entwickeln selbst Ansätze, die für sie funktionieren, ihren Anliegen und Bedürfnissen gerecht werden. Agrarökologie ist ein gutes Dach für diverse ökologische Bewegungen.
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Leider hört man auch immer wieder über Fehlentwicklungen und Widerstände. Mit welchen Gegenkräften müssen sich Agrarökologie und Bio-Bewegung auseinandersetzen?
Das Thema Saatgut ist so ein heißes Eisen. Wir wissen, dass bäuerliche Produzenten weltweit 80 Prozent des Saatguts für den Anbau von Lebensmitteln bereitstellen. Diverse Studien haben gezeigt, dass kleinbäuerliche Produzenten darauf angewiesen sind, Saatgut auszutauschen, damit zu handeln und es wiederzuverwenden. Der Zugang zu diesen Bausteinen des Lebens wird vielfach durch strikte Sortenschutzgesetze, Patentierungen sowie Gentechnikverfahren erheblich eingeschränkt. Das sind Bedrohungen, die genau das Gegenteil von Agrarökologie sind und deren Ziele konterkarieren. Die enge Verflechtung der Agrarindustrie-Lobby mit der Politik ist eine der Gegenkräfte, die immer wieder positiven Entwicklungen verhindern. Es liegt also noch ein großes Stück Arbeit vor uns.
Gibt es Vorzeigebeispiele, die zeigen, wie positiv Agrarökologie wirkt?
Die Agrarökologie wurde in den 1970er Jahren von Bauern in Lateinamerika entwickelt und hat sich in ganz unterschiedlichen lokalen Ausprägungen und diversen Schwerpunkten weltweit verbreitet. „La Via Campesina” ist als internationale Organisation weltweit aktiv und setzt sich insbesondere für die Saatgut-Souveränität ein. In Asien ist das „System of Rice Intensification“ (SRI) mittlerweile sehr verbreitet und die süd-ostasiatische Nichtregierungsorganisation SEARICE treibt im Mekong-Delta den Aufbau von Saatgutinitiativen voran. Millionen Kleinbauern praktizieren diese agrarökologischen Ansätze mit großem Erfolg und fahren hohe Ernten ein. Ein wichtiger Beitrag zur Reduzierung des Welthungers.
Was muss konkret geschehen, damit Agrarökologie weltweit noch stärker Verbreitung findet, um künftig die Lebensgrundlagen für die wachsende Weltbevölkerung zu sichern und die Klimakrise zu bekämpfen?
Das Potenzial ist zweifelsohne da. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, brauchen wir die Unterstützung von Politiker*innen und Verwaltungen auf allen Ebenen. Förderliche politische Rahmenbedingungen sind die Voraussetzung: von der Schaffung der Infrastruktur für bäuerliche Vermarktung, die Stärkung der „Farmers Rights” in Saatgutgesetzen, über den Ausbau von Forschung und Beratungsstrukturen, bis hin zu einer kohärenten Handels- und Klimapolitik. Ich würde mir wünschen, dass Deutschland und möglichst viele andere Staaten Agrarökologie zu einem zentralen Ansatz bei der Beseitigung des weltweiten Hungers und der Bewältigung der Folgen der Klimakrise machen.
Das Interview führte Karin Heinze, BiO Reporter International
Weiterführende Informationen
Positionspapier Agrarökologie 2019 wird von 26 Organisationen, u.a. IFOAM, BÖLW, Fairtrade unterstützt https://www.oxfam.de/system/files/agraroekologie2019_positionspapier.pdf
Broschüre Agrarökologie 2016 Besser anders - Anders besser // Menschen gestalten Ernährungssysteme https://www.oxfam.de/system/files/agraroekologie_broschuere_a4_web.pdf
Vita
Marita Wiggerthale, geb. 19.11.1964
1989 - 1991 Freiwilligendienst in Peru hat die Entscheidung zur Entwicklungszusammenarbeit befördert.
1995 - 2000 Magisterstudium der Politik-, Wirtschaft- und Erziehungswissenschaften inkl. Auslandssemester in Frankreich und Praktika in Aachen, London und Brüssel
2000 - 2002 Generalsekretärin der internationalen katholischen Landjugendbewegung (MIJARC) mit Sitz in Brüssel
2002 - 2004 Presse-, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit im Handelsbereich bei GermanWatch
Seit August 2005 Referentin für Welternährung und globale Agrarfragen bei Oxfam Deutschland
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